Falsche Versprechen« — so heißt Ihr Essay. Was ist nun das falsche Versprechen des digitalen Kapitalismus?
Leitunternehmen des digitalen Kapitalismus wie Google, Amazon & Co. versprechen in wirtschaftlicher Hinsicht, dass sie die schwache Verbrauchernachfrage der Gegenwart bekämpfen können und zwar indem sie Konsum effizienter machen. Die Leute sollen, einfach gesagt, immer und überall shoppen und in weniger Zeit mehr konsumieren können. Ich glaube, dass dieses Versprechen nicht eingelöst wird. Stattdessen wird die Rationalisierung des Konsums die Nachfrageschwäche, die den Kapitalismus der Gegenwart prägt, weiter verschärfen. Denn die gleichen Strategien, die den Konsum effizienter machen sollen, erfordern zeitintensive Mitarbeit von Kunden, erzeugen Lohndruck und kannibalisieren beschäftigungsintensive Branchen.
Erklären Sie bitte das mit der »Kannibalisierung«.
Denken Sie an den E-Commerce, den Warenhandel über Internetplattformen wie Amazon. Dem Wachstum dieser Branche stehen Rückgänge im traditionellen Einzelhandel gegenüber. Amazon-Beschäftigte verdienen weniger als im Einzelhandel, sind strengen betrieblichen Herrschaftsmechanismen unterworfen – und es werden insgesamt weniger Arbeitskräfte gebraucht, wenn der dezentrale, stationäre Einzelhandel schrumpft.
Sind E-Businessmodelle nicht auch starke Motoren für Jobwachstum, siehe z.B. das boomende Geschäft mit Essenslieferdiensten?
In Deutschland oder den USA haben wir im Moment ja nicht das Problem, dass zu wenig Jobs zur Verfügung stehen. Die Frage ist: Was sind das für Arbeitsplätze, die rund um digitale Geschäftsmodelle neu entstehen, und welche ersetzen sie vielleicht? Hat ein Restaurantangestellter, der Essen ausfährt, mehr Gehalt und größerer Sicherheit als jemand der formal selbständig ist und auf Abruf für ein Internetportal liefert? E-Businessmodelle produzieren vor allem zwei Jobtypen: Sehr gut bezahlte Tätigkeiten für wenige Technologie- und Marketingexperten und einen breiten Kranz prekärer Jobs mit losen Verbindungen zum Kernunternehmen. Auf der Strecke bleiben die »normalen« Arbeitsplätze der Mittelschicht.
Was ändert sich am Arbeitsplatz in den neuen digitalen Geschäftszweigen?
Auch hier sieht man die Polarisierung zwischen den Top-Kräften und den prekären Rändern, die den digitalen Kapitalismus prägt. Oben werden große Autonomiespielräume gewährt. Die Arbeitgeber bieten Rundum-sorglos-Pakete, die die Beschäftigten zu Kreativität und Engagement ermuntern sollen. Unten werden digitale Organisationsmodelle genutzt, um rigide technische Kontrollinstrumente einzuführen und direkt die Arbeitsläufe zu bestimmen – mittlerweile auch bei formal Selbstständigen.
Ist es berechtigt, wenn das alles bei ArbeitnehmerInnen und GewerkschaftsvertreterInnen Ängste hervorruft?
Angst ist kein guter Ratgeber und ich sehe auch eher großen Willen bei ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften, den digitalen Wandel zu gestalten. Ich glaube allerdings, dass das Problem der Nachfrage an den Verbrauchermärkten bisher kaum gesehen und berücksichtigt wird.
Werden digitale Geschäftsmodelle aus Silicon Valley die deutsche Wirtschaft umstülpen? Und wenn ja, womit müssen wir rechnen?
Die digitale Ökonomie aus Internet- und Kommunikationsunternehmen wird weiter wachsen. Wie stark sie sich in Deutschland und Europa durchsetzen wird, kann man jedoch noch nicht sagen. Aber Europa ist als größter Binnenmarkt der Welt für die Leitunternehmen der Digitalisierung von entscheidender Bedeutung. Und es entscheidet sich hier, wie der digitale Kapitalismus reguliert werden kann, ohne dessen Innovationskraft zu zerstören.
Wie könnte die Politik klug und vorausschauend auf die Expansion der digitalen Wirtschaft reagieren – bzw. auf das bisher wenig beachtete Nachfrageproblem?
Eine Stärke des deutschen Modells sind die etablierten Formen der tarifpartnerschaftlichen und politischen Lohnaushandlung. Wenn die »Sollbruchstelle« des digitalen Kapitalismus eher bei der Nachfrageerzeugung (als bei der Produktivitätsentwicklung in den Unternehmen) liegt, dann muss man über höhere Löhne und die gesellschaftliche Verteilung von Arbeitszeit nachdenken. Auch viele Silicon-Valley-Unternehmen sind mittlerweile für ein bedingungsloses Grundeinkommen, weil das die Nachfrage sichern soll, die sie selbst mit ihren Geschäftsmodellen gefährden. Das zeigt, dass in den Schaltzentralen der Digitalisierung der Zusammenhang zwischen Kaufkraft, Arbeitszeit und Nachfrage langsam erkannt wird.