Eine Auswahl sozialwissenschaftlicher Bücher zum Thema Gewalt
Tobias Hauffe
Die Leere im Zentrum der Tat
Eine Soziologie unvermittelter Gewalt
Geb., 208 S.
Tobias Hauffe analysiert vier Fälle versuchten Totschlags im öffentlichen Raum. Allen Fällen ist gemein, dass die brutalen Konfrontationen im Kontext alltäglicher Konfliktsituationen stattfinden und sich kaum zufriedenstellend erklären lassen. Akribisch rekonstruiert er den jeweils spezifischen Gewaltmoment, indem er die Fälle aus unterschiedlichen soziologischen Perspektiven einkreist. Er integriert Interviews mit Polizeibeamt:innen ebenso in die Analyse wie Videomaterial vergleichbarer Gewalttaten, popkulturelle Darstellungen und literarische Beschreibungen eines plötzlichen Ausbruchs von Gewalt. Seine Studie ist nicht nur mitreißend geschrieben, sondern liefert auch wesentliche Impulse für die Gewaltforschung.
Der G20-Gipfel 2017 in Hamburg ist vor allem wegen der gewaltsamen Ausschreitungen und Konfrontationen mit der Polizei in Erinnerung geblieben. Die Beiträge dieses Bandes analysieren die Dynamiken der damaligen Eskalation.
Warum stellen einige politische Gewalttäter ihre Taten öffentlich und spektakulär zur Schau? Lee Ann Fujii geht dieser Frage anhand von drei extremen Gewaltereignissen nach und zeigt, wie das Zuschauen und die Teilnahme an diesen Gewaltspektakeln die Beteiligten verändert und soziale Hierarchien und Machtstrukturen stärkt. Öffentliche Gewalttaten zwingen Beteiligte dazu, sich zu entscheiden: offen die Ziele der Gewalt zu unterstützen oder zu riskieren, selbst Opfer zu werden. Lee Ann Fujiis letztes Buch beleuchtet, wie die Täter die Fragilität sozialer Bindungen nutzen und wie öffentliche Gewalt gesellschaftliche Strukturen nachhaltig verändert.
Wenn sexuelle Gruppenübergriffe zur Debatte stehen, werden die Taten selbst, das eigentliche Gewaltgeschehen, kaum thematisiert. In ihrer Studie nimmt Laura Wolters einen Perspektivwechsel vor und stellt stattdessen die Gewaltpraktiken und Interaktionen ins Zentrum. Anhand von Gerichtsakten, autobiografischen Zeugnissen sowie Erfahrungs- und Augenzeugenberichten untersucht sie Gruppenvergewaltigung als soziales Geschehen von Antun und Erleiden. Damit legt Laura Wolters nicht nur die erste Soziologie der Gruppenvergewaltigung vor, sondern leistet auch einen konzeptionellen Beitrag zu einer jüngeren Gewaltforschung.
Gaby Zipfel | Regina Mühlhäuser | Kirsten Campbell (Hg.)
Vor aller Augen
Sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten
Geb., 576 S.
Sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten ist allgegenwärtig. Aber erst mit der Gründung der Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda in den 1990er Jahren begann man, sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Akt des Völkermords zu begreifen. Trotz allem mangelt es bis heute an effektiven Gegenstrategien und an einem Verständnis für die Komplexität dieser Form der Gewalt. In Essays, Reflexionen und Gesprächen zeigen die Autor:innen, in welch vielfältigen Konstellationen sexuelle Gewalt auftritt. Das Buch führt in die historischen Dimensionen ein und diskutiert zentrale politische und juristische Fragen der Gegenwart.
Thomas Hoebel und Wolfgang Knöbl schlagen vor, konsequent an prozessualen Erklärungen von Gewalt zu arbeiten, wobei es nicht darum geht, die üblichen Warum-Fragen zu stellen, sondern dem »Wie« nachzugehen.
Von der Persistenz und Endlichkeit innerstaatlicher Gewaltkonflikte
Geb., 367 S.
Auch im 21. Jahrhundert wird die Welt von lang anhaltenden Bürgerkriegen erschüttert. Bis zu Beginn der 1990er Jahre wurden diese innerstaatlichen Kriege zumeist als politisch motivierte Gewaltkonflikte oder Stellvertreterkriege angesehen. Danach setzten sich mit Ende des Kalten Krieges neue Erklärungsansätze durch, die die flächendeckende Gewalt primär auf Habgiemotive oder traditionelle ethnische Feindschaften zurückführen. Gegen diese schablonenhaften Deutungsmuster entfaltet Stefan Deißler eine Perspektive, die der vielschichtigen Komplexität des Phänomens Bürgerkrieg näher kommt. Der Autor rückt die kriegführenden Organisationen selbst in den Fokus und unterzieht die Beziehung zwischen Kombattanten und Zivilisten einer kritischen Betrachtung.
Über Eigendynamik und Selbstorganisation kollektiver Gewalt
Geb., 415 S.
Gewaltforscherinnen und -forscher aus Soziologie, Geschichte, Ethnologie, Psychologie und Philosophie untersuchen in diesem Buch die Prozesse, durch die Männer und auch Frauen in Gruppen und Menschenmengen gemeinschaftlich Gewalt ausüben, die sie zuvor als illegitim und unvereinbar mit ihrem Selbstverständnis wahrgenommen haben. In einer Welt, in der Gewalt in weiten Teilen zwar grundsätzlich verurteilt wird, aber gleichzeitig omnipräsent zu sein scheint, bietet diese multiperspektivische Betrachtung, die neben den Entstehungsbedingungen auch die Phänomenologie und die Eigendynamik unterschiedlichster Gewaltereignisse einbezieht, einen Erklärungsansatz wie auch aktuelle Orientierung.
Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne
Br., 575 S.
Warum sich auch die Soziologie mit den Phänomenen der Gewalt schwer tut, ist eine der zentralen Fragen, mit denen sich Jan Philipp Reemtsma beschäftigt. Er analysiert, was Vertrauen und vor allem Vertrauen in die Moderne heißt. Wie kann extreme Destruktivität neben dem modernen Programm der Gewalteinschränkung bestehen und warum besteht das Vertrauen in die Moderne ungeachtet der Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts fort? Jan Philipp Reemtsma untersucht die Phänomene der Gewalt in ihrem unterschiedlichen Körperbezug und in ihrem Verhältnis zur Ausübung von Macht. Er fragt, aus welchem Grund bestimmte Gewaltformen in der Moderne tabuisiert worden sind, obwohl sie nach wie vor fortbestehen. Jan Philipp Reemtsma leistet so einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis der Beziehung, die zwischen Vertrauen, Gewalt und Macht herrscht.
Der amerikanische Soziologe Randall Collins untersucht die realen Welten der menschlichen Zwietracht – von der häuslichen Gewalt über Mobbing und gewalttätigen Sportarten bis hin zu bewaffneten Konflikten. Er erklärt, warum sich Gewalt typischerweise gegen Schwächere richtet und warum »Vorwärtspanik« ihren Ausbruch begünstigt. Er zeigt, warum sie als ritualisierte Zurschaustellung, als klandestiner Terrorakt oder Mord inszeniert wird und, warum nur wenige dazu fähig sind, Gewalt tatsächlich auszuüben. Collins legt präzise dar, warum Gewalt nur ausgelöst werden kann, wenn die emotionalen Barrieren fallen, die gewalttätiges Handeln verhindern. Und er skizziert, wie man der Gewalt in Zukunft entgegentreten kann.
Robert Castel untersucht anhand der Jugendunruhen die Stigmatisierungs- und Deklassierungsmechanismen, die Migranten zu »Bürgern zweiter Klasse« machen, sowie die neuen Formen von Prekarität und Ausgliederung, die daraus resultieren. Die Mehrzahl der heute in Frankreich lebenden Menschen mit Migrationshintergrund sind nicht nur besonders stark von Arbeitslosigkeit, Armut und schlechten Wohnverhältnissen betroffen, sondern potentielle Opfer fremdenfeindlicher oder rassistischer Angriffe. Sie alle leben in einer Gesellschaft, die negative Diskriminierung offiziell verbietet und gleichzeitig massiv praktiziert. Robert Castel fordert, die Benachteiligung durch positive Diskriminierungsmaßnahmen abzubauen, um die Zukunft der sich transformierenden Gesellschaft zu sichern.
Mörderische ethnische Säuberungen sind, so die zentrale These Michael Manns, die dunkle Seite der Demokratie. Sie sind eine mögliche Perversion der Demokratisierung, weil dem demokratischen Nationalstaat ein organizistischer Nationalismus anhaftet, der danach strebtStaatsvolk und Abstammungsgemeinschaft deckungsgleich zu machen – wenn nötig mit Gewalt. Michael Mann untersucht in empirisch dichten Fallstudien die Mechanismen der ethnischen Säuberung und ihre Umsetzung. Die historisch-soziologische Analyse dieser Fälle zielt darauf ab, systematische Erkenntnisse und theoretische Erklärungen für die Entstehung mörderischer ethnischer Säuberungen herauszuarbeiten – nicht zuletzt, um politische Maßnahmen zu deren Verhinderung ableiten zu können.
Die Gewalt war bis in die 1980er Jahre noch nicht die zentrale Figur des Bösen. Man sprach von sozialen Beziehungen und somit von Konflikten und erfasste das Gemeinschaftsleben im Rahmen der Nationalstaaten. Heute ist die Gewalt an die Stelle des Konflikts getreten, und die kulturellen Identitäten erzeugen Spannungen und Ängste. Terrorismus und Krieg siegen über die friedlichen Verhandlungen und vertiefen täglich das weltweite Politikdefizit. Die Gewalt entfaltet sich über diese Phänomene, und die große Frage lautet, ob es möglich ist, ihr etwas entgegenzusetzen, und wenn ja, wie. Michael Wieviorka widmet sich der Analyse der veränderten Gewaltformen und untersucht die Herausforderung, die die Gewalt für die Sozialwissenschaften darstellt.
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