Im Juli vor 25 Jahren ereignete sich in Srebrenica das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wir sprachen mit Dr. Matthias Fink, Autor von »Srebrenica. Chronologie eines Völkermords oder Was geschah mit Mirnes Osmanović« und dem Kulturhistoriker Avdija Alibašić, dessen Verdienst es ist, dass das Buch nun, fünf Jahre nach Veröffentlichung der deutschen Ausgabe, in einer von ihm angefertigten Übersetzung in Bosnien-Herzegowina erscheint.
Herr Fink, wie beurteilen Sie, 25 Jahre nach den Ereignissen in Srebrenica, die Aufarbeitung der dort begangenen Verbrechen sowie die Art, wie daran erinnert wird – juristisch, politisch und im öffentlichen Diskurs?
Matthias Fink: Um es zynisch auszudrücken: Erinnerung scheint heutzutage etwas für einen Tag zu sein, wenn überhaupt. In Bezug auf Srebrenica ist das jedenfalls schon seit langem so. Der 11. Juli bedeutet Jahr für Jahr: ein gemeinsames Begräbnis für die zuletzt identifizierten Opfer des Genozids auf dem Gedenkfriedhof in Potočari; dabei treten Politiker und Politikerinnen aus allen möglichen Ländern auf, an runden Gedenktagen auch gerne Prominente wie der ehemalige US-Präsident Clinton, der sich dann für seine Versäumnisse entschuldigt; das wiederum ist für die internationale Medienwelt Anlass genug, eine ausführlichere Reportage samt kurzer Dokumentation der Ereignisse zu drucken oder zu senden. Und das war’s dann wieder bis zum nächsten Jahr.
Zurück bleiben die betroffenen Familien mit ihren Traumata und die paar politisch-historisch Interessierten, die das Geschehen nicht mehr losgelassen hat. Srebrenica ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall. An den Völkermord in Ruanda, dem fast eine Million Menschen zum Opfer gefallen waren, wird außer an Jahrestagen genauso wenig gedacht. Haiti? Kongo? Darfur? Rohingyas? War da was?
In der medialen Öffentlichkeit ist Srebrenica seit dem Friedensvertrag von Dayton, der im Dezember 1995 den Krieg in Bosnien-Herzegowina beendete, kaum noch Thema. Das Heer der Reporter zog ab, die internationale Politik wandte sich anderen Krisengebieten zu oder schuf selbst neue, und seit dem 11. September 2001 ist sowieso alles anders.
Dabei ist kaum eine der Tragödien, die sich seit 1945 ereignet haben, in ihren Details derart aufgearbeitet worden wie das Drama von Srebrenica und seiner Menschen. Das ist dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien zu verdanken, dort haben sich Richterinnen und Richter gut zwanzig Jahre lang bemüht, die Ungeheuerlichkeiten der jugoslawischen Auflösungskriege aufzuklären und zu dokumentieren. Sie haben – mit wenigen Ausnahmen – hervorragende Arbeit geleistet. Die Haupttäter wurden verurteilt, ihre Verbrechen akribisch dokumentiert. Nach dem Spruch der Richterinnen und Richter ist ein für allemal festgehalten: Die Massaker von Srebrenica waren Völkermord im Namen des Serbentums, geplant und befohlen von einem Pseudostaat, ausgeführt von einer entfesselten Soldateska.
Die Datenbank des Gerichtes, in der alle vorgelegten Dokumente, Zeugenaussagen und Gutachten einzusehen und nachzulesen sind, bleibt als unerschöpfliche Quelle zu einem Geschehen, das vor 25 Jahren für ein paar Wochen weltweit für Schlagzeilen gesorgt hat. Und jede und jeder kann dort nachlesen, was wirklich geschah.
Matthias Fink hat sein Buch nach vielen Jahren der Recherche in der Region Srebrenica, der Prozessbeobachtung in Den Haag und der Auswertung der Haager Datenbank erarbeitet. Wie wurden Sie, Herr Alibašić, auf das Buch aufmerksam, und was musste geschehen, damit die bosnische Ausgabe realisiert werden konnte?
Avdija Alibašić: Als ich im August 2015 eine Rezension in der Süddeutschen Zeitung las, musste ich mir das Buch kaufen, und seitdem hat es mich nicht mehr losgelassen. Ich war – und bin immer noch – begeistert von diesem Buch. Es bietet einen bisher nie da gewesenen, wissenschaftlich fundierten Überblick über das Massaker und ist gleichzeitig verständlich und gut lesbar. Schnell reifte in mir der Wunsch, dafür zu sorgen, dass dieses Buch auf Bosnisch erscheint, als Beitrag zur notwendigen und bis dahin bestenfalls schleppend verlaufenden Aufarbeitung sowie zur gegenseitigen Verständigung in der Region.
Dieser Wunsch rührte sicherlich im Wesentlichen daher, dass bis zum Krieg Bosnien innerhalb Europas als das Paradigma für Pluralität, Vielfältigkeit, Toleranz und ein respektvolles Miteinander gelten konnte. Der Bosnienkrieg 1992–1995 wurde im Grunde gegen dieses Paradigma der Pluralität geführt.
Mit einem solchen pluralistischen Bosnien aber fühle ich mich verbunden und zugleich dazu verpflichtet, das mir Mögliche zur Unterstützung, ja zur Rettung dieses Bosniens zu unternehmen. Ohne diese selbst auferlegte Verpflichtung wäre die Übersetzung der nahezu 1000 Buchseiten nicht möglich gewesen. Neben der reinen Übersetzung waren Unmengen an Quellenangaben zu vergleichen, insbesondere damit in der Übersetzung der Originalwortlaut der entsprechenden Dokumente übernommen wird. Daran habe ich ungefähr 2 Jahre gearbeitet.
Meine Suche nach einem Verlag gestaltete sich nicht minder schwierig. Es ist schließlich nicht davon auszugehen, dass dieses umfangreiche Buch auf einer Bestsellerliste landet. Der bosnische Verlag Dobra knjiga in Sarajevo erklärte sich bereit, das Buch ohne Aussicht auf finanziellen Gewinn zu veröffentlichen. Dafür muss ich dem Verlagsinhaber Izedin Šikalo herzlich danken, der wie ich aus gesellschaftlicher Verpflichtung heraus gehandelt hat. Zugleich muss ich der Hamburger Edition und Herrn Fink meinen Dank aussprechen, die das Projekt tatkräftig unterstützt haben.
Bosnien als ein einzigartiges, plurales und multireligiöses Gebiet innerhalb Europas – darüber haben Sie auch selbst kulturhistorisch geschrieben. Was sind die Hintergründe der Pluralität in dieser seit den 1990er so bedrohten Kulturregion?
A.A.: Mitten im bosnischen Krieg habe ich ein Buch veröffentlicht, dessen Titel »Trajanje Bosne« in etwa mit »Das Verweilen / Die Ausdauer Bosniens – Umbrüche im bosnischen Bewusstsein« zu übersetzen wäre. Es sind Reflexionen über die kulturhistorische Essenz, die Bosnien über Jahrtausende geprägt hat. Bosnien liegt in einem Gebiet, das stets entfernt von den großen politischen und kulturellen Zentren lag. Sowohl Athen als auch Rom, Konstantinopel oder auch Wien haben wichtige Spuren in Bosnien hinterlassen, aber ihre politische Herrschaft hat die Eigenart Bosniens nie gänzlich unterdrücken oder gar auslöschen können.
Dr. Fink erklärt in seinem Buch die Bedeutung der Teilung des römischen Reiches 395 für die spätere Entwicklung Bosniens bis heute: Der Fluss Drina (die Stadt Srebrenica liegt ca. zehn Kilometer westlich davon) wurde jahrhundertelang zur Trennlinie »zwischen Religionen, Völkern und Kulturen«.
Östlich der Drina hat die byzantinisch-orthodoxe Kirche nach und nach die Oberhand gewonnen, westlich davon, in Bosnien, wurde ihr Einfluss aber erst ab dem Ende der osmanischen Herrschaft stärker. Dort kämpfte jedoch auch die katholische Kirche von Rom aus um Geltung, weil die Menschen in Bosnien mehrheitlich Anhänger der eigenen »Bosnischen Kirche«, bekannt als Bogomilen, waren. Die Multireligiosität hatte auch unter osmanischer Herrschaft ihren Fortbestand. Der Islam gewann an Bedeutung, viele Bogomilen konvertierten zum Islam. Als Symbol der Toleranz im mittelalterlichen Bosnien kann die berühmte Urkunde »Ahdname« aus dem Jahr 1463 betrachtet werden. Darin sagten die herrschenden Osmanen der katholischen Kirche die freie Religionsausübung zu.
Diese Multireligiosität wurde noch komplexer, als sich die spanischen Juden, die Sepharden, nach ihrer Vertreibung aus Spanien 1492 in Bosnien niederließen. So sind diverse Kulturen und Religionen auf dem kleinen bosnischen Territorium zusammengetroffen und haben aufeinander gewirkt. Dadurch ist eine Mischung entstanden, aber kein »melting pot«, in dem alles zusammenschmilzt, sondern eher »ein bosnischer Teppich«.
Trotz der ungeheuerlichen Katastrophe des Krieges der 1990er Jahre, wurde die vielfältige Kultur Bosniens nicht völlig ausgelöscht. Diese Pluralität ist immer noch sichtbar: Mitten in Sarajevo, in einer Entfernung von ca. 200 Metern voneinander, stehen vier große Gotteshäuser: eine katholische Kathedrale, eine große orthodoxe Kirche, eine Moschee und eine Synagoge. Es heißt, dass es keinen anderen Ort gibt, an dem vier Gotteshäuser dieser unterschiedlichen Religionen in einem so engen Radius zu finden wären. Es besteht noch Hoffnung, dass mit viel Mühe und Geduld etwas davon zu retten ist.
Angesichts der Lage im Land und in der Region 25 Jahre nach dem Massaker in Srebrenica, welche Resonanz auf das Erscheinen des Buches in Bosnien-Herzegowina wünschen Sie sich? Was könnte es für eine Wirkung haben?
A.A.: Wir hoffen, dass dieses Buch nicht nur in einem Land, also Bosnien-Herzegowina, positiv aufgenommen wird, sondern in der gesamten Region, und dabei zumindest einen wichtigen Baustein für die historische Aufarbeitung darstellt. Denn unabhängig davon, wie die Sprache genannt wird – Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch – kann der Text überall verstanden werden.
Die Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit haben in Bosnien und den Nachbarstaaten noch gar nicht wirklich begonnen. Stattdessen sind die Fronten mit der Zeit noch härter geworden und jeder Staat – jede ehemalige Kriegspartei – beharrt auf seiner eigenen Geschichtsschreibung. Das Buch ist auch deshalb so wichtig, weil der Autor nicht aus der Region kommt und ihm in keinerlei Hinsicht eine Befangenheit vorgeworfen werden kann. Das Buch basiert auf Fakten, die anhand der ausführlichen Quellenangaben jederzeit nachprüfbar sind.
Die Lage wird sich nicht von heute auf morgen verändern. Aber insbesondere am 25. Jahrestag des Massenmords in Srebrenica sollte nur den Opfern und ihren Hinterbliebenen gedacht werden. Diesen gebührt unser aller Respekt und unsere Anteilnahme, und es ist beschämend, wie in manchen Regionen dieser Jahrestag diffamiert wird.