In Ihrem Buch untersuchen Sie die Vorgeschichte der heute real existierenden parlamentarischen Demokratien am Beispiel des Vereinigten Königreichs und Deutschlands. Es trägt den Titel »Postheroische Demokratiegeschichte«. Was verstehen Sie in diesem Kontext unter »postheroisch«?
Die Geschichte der Demokratie wird für das 19. Jahrhundert häufig im heroischen Modus erzählt: Im Mittelpunkt stehen dann Frauen und Männer, die für das allgemeine Wahlrecht gekämpft haben, oder politische Klassen früherer Zeiten, die schicksalsergeben dem unaufhaltsamen Drang nach Demokratisierung nachgegeben haben. Diese Erklärungen sind unbefriedigend, denn die Vorkämpfer*innen für das allgemeine Wahlrecht hatten im 19. Jahrhundert nichts zu sagen. Und die damaligen politischen Klassen waren weit entfernt davon, Demokratisierung als unausweichlich zu empfinden. Meine »postheroische« Darstellung zeigt demgegenüber, dass die Parlamentarisierung nichts mit Demokratisierung zu tun hatte und die Wahlrechtserweiterungen ebenso wenig.
Ein Ergebnis Ihrer Studie ist, dass wir es bis heute mit einem politischen System zu tun haben, das vor allem Regierungsfähigkeit priorisiert. Welche Veränderungen am System schlagen Sie vor – und was muss bewahrt werden? Anders gefragt: Bietet der Blick in die Geschichte Lösungsansätze für heutige Probleme?
Bewahrt werden müssen – bei allen Unvollkommenheiten – Parlamente und allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht. Auch wenn die Parlamentarisierung nicht die Demokratie gebracht hat, hat allein die Existenz von Parlamenten das politische System pluraler und etwas responsiver gemacht. Das gleiche und direkte Wahlrecht hat dann im 20. Jahrhundert eine Einflugschneise für die zunehmende Anerkennung gleicher Partizipationschancen für alle geschaffen. Wie sich aber nicht erst heute zeigt, ist die regelmäßige Wahl von Personen und Parteien kein hinreichendes Mittel, um Einfluss »von unten« auf das politische System zu nehmen, um also das Prinzip politischer Teilhabe tatsächlich in die Praxis umsetzen zu können. Das wussten schon die Konservativen des 19. Jahrhunderts, die deswegen gar kein Problem damit hatten, unter bestimmten Umständen Wahlrechtserweiterungen zu befürworten. Die Geschichte liefert keine Patentlösungen, wie die real existierende parlamentarische Demokratie demokratisiert werden könnte. Doch sie kann realistischere Vorstellungen über die Bedingungen der Möglichkeit von Demokratie befördern, als die heroischen Erzählweisen es tun. Das erweitert nicht nur den Blick, sondern auch die Handlungsmöglichkeiten. Wenn sich etwa schon um 1900 viele aktive Politiker oder akademische Politikbeobachter Sorgen darüber machten, dass das Aufkommen der Parteien das politische System in eine eigentümliche, von keiner Verfassungstheorie vorgesehene Schieflage brachte, sollte man heute vielleicht einmal darüber nachdenken, wie man den immensen Einfluss von Parteilogiken auf das politische Handeln von Regierungen und Parlamentsfraktionen eindämmen könnte.