Wie lässt sich Ihr Buch in einen Tweet zusammenfassen?
Meistens riefen Eliten zur Wahlteilnahme auf, und meistens war ein Großteil des Wahlvolks desinteressiert. #Demokratie braucht kein Pathos.
»Moderne Wahlen« bietet eine Fülle plastischer Geschichten, etwa über skurrile Wahlpraktiken – und auch reichlich visuelles Material. Was ist Ihre »Lieblingsgeschichte« und welches Bilddokument spricht in Ihren Augen Bände?
Meine Lieblingsgeschichte ist die von den ausländischen Gefängnisinsassen in den USA, die am Wahltag von Parteileuten in ein Dampfschiff gesetzt wurden, das dann den Mississippi hinabfuhr. Die Parteimänner machten an den Uferstädtchen Halt, trieben die Gefangenen im Gänsemarsch zum Wahllokal und zwangen sie, für ihre Partei zu stimmen. Die mit Gewalt erzwungene Abstimmung gehört zu den spektakulären Phänomenen der US-Wahlen im 19. Jahrhundert und wirft die Frage auf, welchen Sinn Wahlen für die Zeitgenossen hatten.
Mein Lieblingsbild (S. 526) ist aus der Berliner Illustrirten Zeitung. Es zeigt ein Public Viewing in Berlin bei dem die Wahlergebnisse 1907 bekanntgegeben werden. Das Bild spricht Bände: Nicht nur, weil die Politisierung der Menschen deutlich wird und die große Bedeutung des Parlaments in Deutschland; die Illustration veranschaulicht zudem die Beschleunigung der Zeit, in der moderne Technik die Verkündigung der Ergebnisse bereits wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale ermöglichte. Und: Public Viewing! Um 1900! Für die Wahlergebnisse! Das ist ein hinreißendes Stück Demokratiegeschichte.
In Ländern wie Brasilien gibt es eine Wahlpflicht – Nichtwähler bekommen eine Geldstrafe und Probleme bei der Kontoeröffnung oder der Beantragung eines Reisepasses. Eine gute Idee?
Ich denke eher nicht. Das Interesse vieler Deutschen um 1900 für Partizipation und Parlament war eher eine Ausnahme. Bis heute empfinden viele Menschen die Wahlen als langweilig. Und so gut wie immer gingen moderne Wahlen mit den Ermahnungen der Obrigkeit zur Wahlteilnahme einher. Wahlen scheinen also eher für die Regierenden von Interesse zu sein als für die Regierten. Meines Erachtens ist unsere heutige liberale Form der Demokratie nicht zuletzt deswegen erfolgreich, weil sie den Menschen nur ein Minimum an Aufwand abverlangt. Die Wahlreformen um 1900 haben in Europa und den USA dafür gesorgt, dass Wahlen nur noch wenige Minuten in Anspruch nehmen. Anders als beispielsweise totalitäre Diktaturen kommen liberale Demokratien damit klar, dass sich viele Bürgerinnen und Bürger nicht für Politik interessieren und lieber ihren privaten Geschäften nachgehen. Demokratie braucht nicht den Zugriff auf die Menschen. Bisher haben sich aber immer Bürgerinnen und Bürger gefunden, die sich engagieren und das Schiff am Laufen halten. Das sind eher die Gebildeten – und womöglich gehört das zu den Stärken der Demokratie.
Und doch werden seit den 1990er Jahren zunehmend verbindliche Volksentscheide und Volksabstimmungen gefordert. Liefert Ihr Buch eher Argumente für die Pro- oder für die Kontraseite im heutigen Streit um direkte Demokratie?
Ich plädiere in dem Buch dafür, Demokratie weniger pathetisch zu diskutieren. Sie ist eine großartige Staatsform, weil sie Menschenrechte, Freiheiten und Wohlstand bietet, wie es das bisher in der Geschichte noch nie gegeben hat – und weil sie offen für Kritik ist und damit für weitere Besserungen. Es ist jedoch kein Zufall, dass funktionierende Demokratien nie direkte Demokratien waren. Verfassungsväter und -mütter haben immer darauf geachtet, den Willen der Mehrheit zu zähmen, also die Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit (wie es Tocqueville genannt hat) zu minimieren. Dazu gehört die Gewaltenteilung, die Unantastbarkeit von Menschenrechten, aber eben auch die Repräsentativität: Nicht das Volk regiert direkt, sondern seine Vertreter.
Was haben Sie bei den Recherchen zu Ihrem Buch über Demokratie erfahren?
Am Anfang der modernen Demokratie stand nicht das revolutionsbereite Volk, das seine Rechte einforderte, sondern eine gebildete Elite. Sie erkannte, wie wichtig die Einbeziehung der Bürger für den modernen Staat ist. Erstaunlicherweise entwickelte sich das in den USA recht ähnlich wie in Deutschland. Überhaupt ist die Geschichte der modernen Demokratie im 19. Jahrhundert eine nordatlantische Geschichte, in der Erzählungen von großen Ausnahmen zwar beliebt, empirisch aber nicht besonders überzeugend sind.
In dieser Geschichte erweist sich Demokratie als hochvoraussetzungsvoll. Offenbar gelingt sie nur, wenn sie über viele Jahrzehnte eingeübt wird. Vermutlich ist es kein Zufall, dass nation building und Demokratisierung in Form von Militäreinsätzen und Interventionen durch fremde Staaten nicht funktioniert.
Schließlich: Demokratie ist ein Projekt, eine Vision, ein vermutlich nie abgeschlossener Prozess. Sie ist die Antwort auf das aufklärerische Versprechen der Moderne: Gleichheit und Freiheit – und zwar für alle. Wenn traditionale Begründungen für Hierarchien nicht mehr gelten, müssen alle gleichermaßen Macht ausüben. Das aber ist faktisch nicht möglich – und Demokratien funktionieren so auch nicht (wenig überraschend, sorgt aber regelmäßig für Empörungsdiskurse). Hier kommen die Wahlen ins Spiel: Sie ermöglichen uns die Fiktion der Herrschaft aller. Massenwahlen sind eine Erfindung der Moderne, die absolut originell ist, überraschend und eigentlich auch abwegig. Die einzelne Stimme zählt de facto nichts, das ganze Verfahren ist höchst manipulationsanfällig, es gäbe plausible Alternativen, etwa die Expertenherrschaft, das Losverfahren oder ein Rätesystem. Aber die Inszenierung der Wahl, bei der jede und jeder den Herrschaftsakt vollzieht, ist unverzichtbar für den Glauben an die Demokratie.
In dem Buch geht es eigentlich nur um Männer. Ist das nicht etwas einseitig?
Die Einseitigkeit verdeutlicht die Exklusion der Frauen. Ich mag zwar auch eine Geschichtsschreibung, in der betont wird, welchen Anteil Frauen an allen möglichen Ereignissen im 19. Jahrhundert hatten (bis hin zum Engagement beim Wahlkampf). Aber im Fall der Demokratisierung sollte dieses Wissen nicht darüber hinwegtäuschen, wie selbstverständlich der Ausschluss der Frauen war. Die Einseitigkeit zeigt außerdem die tiefe Durchdringung politischer Partizipation mit Vorstellungen von Männlichkeit. Der ganze Akt der Stimmabgabe ließ sich schlicht nur als männliche Handlung denken. Das änderte sich am Ende des Jahrhunderts mit dem selbstbewussten Auftritt der Frauenrechtlerinnen. Der Ausschluss der Frauen erschien sowohl in Preußen als auch in den USA immer weniger plausibel und ließ sich immer schlechter begründen.
Wieso lohnt es sich für alle political animals, sich mit dem 19. Jahrhundert zu beschäftigen?
Ein Großteil der aktuellen Krisendiskurse wirkt aus historischer Sicht wunderbar naiv: Eine niedrige Wahlbeteiligung ist nämlich eher der Normalfall als die Regel; desinformierte und politikverdrossene Bürger gehören zur Demokratie wie das Wasser zum Wein; es waren nahezu immer Eliten, die den Tanker der Demokratie lenkten, wobei Korruption in westlichen Ländern heute – verglichen eben mit vergangenen Zeiten – eine verhältnismäßig geringe Bedeutung hat. Manche meinen, ich sei zu optimistisch. Aber sollten Intellektuelle nicht offener sein, statt sich kollektiv dem Habitus des Lamentierens zu verpflichten? Die Frauenemanzipation etwa ist eine klare Fortschrittsgeschichte. Sie ist ein essenzieller Teil des Projekts »Demokratie«: der Herrschaft der Gleichen und Freien. Gewiss gibt es noch viel zu tun, und Fortschritt heißt nicht, dass es keine Rückschritte gibt. Demokratie bleibt eine Utopie, aber sie ist bindend für unsere Gesellschaften, prägt unsere Normen und häufig auch unsere Praxis.