Herr Eule, Frau Borrelli, Frau Lindberg, Frau Wyss, in einer soziologischen Studie würde man nicht unbedingt das Wort »kafkaesk« erwarten – trotzdem beschreiben Sie so zum Teil das Verhältnis zwischen Behörden und Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus. Warum?
An sich sollte es nicht überraschend sein, dass wir dem bürokratischen System eine kafkaeske Nuance zuschreiben. Wir hören auch in unserem privaten Alltag ständig von Leuten, die absurde und verwirrende Erfahrungen mit Behörden gemacht haben. Das sind häufig Geschichten von umständlichen Formularen und langen Wartezeiten, von unerklärlichen Arbeitsschritten und überraschenden Ausnahmeregeln – und meistens ist die Person dann am Ende nicht unbedingt schlauer aus der Sache geworden.
In unserem Buch geht es um ähnliche Phänomene im Kontext der umkämpften Kontrolle von Migration. Wir beschreiben, wie in der Praxis nicht alles so läuft wie im Gesetzbuch vorgesehen und wie für alle Beteiligten nicht immer absehbar ist, wie, ob und wann rechtliche Verfahren eigentlich beginnen, wie diese ablaufen und enden. Im Kontext unserer Forschung ist das besonders wichtig, weil es um grundsätzliche Fragen geht: Dürfen Menschen (legal) bleiben? (Wohin) werden sie abgeschoben? usw. Das »Kafkaeske« beschreibt hier nicht nur Alltagsabsurditäten, sondern hilft uns besser zu verstehen, wie die Undurchschaubarkeit von Verwaltungsprozessen Menschen verwirren und lähmen kann, oder welche Auswirkungen jahrelange Wartezustände haben, oder auch wie Verantwortlichkeit verschwinden kann, wenn Zuständigkeiten verschwimmen.
Unsere Forschungsergebnisse haben uns stark an die Parabel »Vor dem Gesetz« erinnert. Hier wartet der »Mann vom Lande« sein ganzes Leben vergeblich darauf, von dem Türhüter des Gesetzes vorgelassen zu werden. Warum er warten muss, kann ihm der Türhüter nicht erklären, wohl aber, dass es schon alles seinen rechten Gang gehe. Die Migrantinnen und Migranten in unserem Buch haben es zwar nach Europa geschafft, befinden sich aber dennoch in einem langwierigen rechtlichen Limbo. Das heißt nicht, dass sie keine Handlungsmöglichkeiten haben, sondern dass alle Beteiligten im Migrationsregime von der kafkaesken Situation beeinflusst sind.
Können Sie uns ein Beispiel für Auswüchse im europäischen Migrationsregime nennen, das Sie als besonders paradox empfanden?
Wir haben über vier Jahre in acht verschiedenen europäischen Ländern Feldforschung durchgeführt – teilweise gemeinsam, teilweise individuell – und von Polizeieinheiten über Ausländerbehörden zu Abschiebegewahrsamen und Geflüchtetenunterkünften viele unterschiedliche Orte erlebt. Wir haben mit geflüchteten Menschen, mit Bürokrat*innen, mit Menschenrechtsaktivist*innen und Gefängniswärter*innen gesprochen. Da sind natürlich viele Momente zusammengekommen, in denen wir paradoxe Praktiken und auch Konversationen zwischen verschieden Akteur*innen erlebt haben.
Für Lisa war die Situation zwischen Gian, einem Sachbearbeiter eines kantonalen Amtes in der Schweiz, welches Abschiebungen durchführt, und Awet, einem Geflüchteten in Abschiebehaft, besonders eindrücklich. Die Art des Gespräches ist stellvertretend für viele andere, spiegelt jedoch auch sehr pointiert die Absurdität wider, die eine solche Kommunikation annehmen kann. Prinzipiell ging es beim Treffen darum, dass Awet gemäss des Dubliner Übereinkommens nach Deutschland ausreisen sollte, weil die Schweiz nicht für die Bearbeitung seines Asylgesuchs zuständig war. Das Gespräch lief wie folgt ab:
- Ich heiße [Gian]. Ich bin von der Polizei. Sie kennen Ihre Situation? […] Das ist meine Anweisung. Sie unterschreiben? Sie gehen zurück Deutschland. Unterschreiben Sie oder nicht, wie Sie wollen. […] Deutschland möchte Sie. Sie gehen Stuttgart oder Frankfurt. […] Das Staatsgebiet der Schweiz ist für Sie geschlossen, drei Jahre keine Schweiz. Nur Information, das Migrationsamt hat sie Ihnen gegeben, nur Info. Sie unterschreiben, oder nicht? […] Sie verstehen? Ja, Sie verstehen. (Feldnotizen, Schweizerische Kantonspolizei 2017)
Nach dem Gespräch bestätigt Gian Lisa recht zufrieden mit dem Gesprächsverlauf zu sein und war sich sicher, dass Awet alle relevanten Details seines Falls verstanden hatte. Lisa, und offenbar auch Awet, kam nur sehr wenig von alledem verständlich vor. Im Gespräch zwischen Awet und Gian beobachten wir weder Verständnis noch respektvollen Umgang mit der inhaftierten Person. Für Gian ging es schlichtweg darum, seine Arbeit, die hauptsächlich darin bestand, eine Unterschrift zu erhalten, möglichst pragmatisch auszuführen.
Gleichzeitig jedoch, und dies trägt zum Level der Absurdität bei, scheint es vollkommen irrelevant, ob Migrant*innen Unterlagen per Unterschrift zur Kenntnis nehmen. Zum einen können Bürokrat*innen »Unterschrift verweigert« auf den Formularen notieren und zum anderen kann jederzeit ein*e Kolleg*in hinzugezogen werden, der oder die bestätigt, dass die betreffende Information der inhaftierten Person mitgeteilt wurde. Es geht daher offensichtlich mehr darum, das bürokratische Verfahren aufrecht zu erhalten, zu legitimieren und den Rechtsweg einzuhalten. Insofern wirken solche Gespräche paradox. Für Awet schien die Konversation, welche Gian in gebrochenem Englisch hielt, vollkommen unbrauchbar. Er wiederholte mehrfach, dass er unterschreiben würde, jedoch nichts verstände. Die Tatsache, dass »Deutschland ihn möchte« ist zudem auch tendenziell absurd, wie uns zahlreiche Personen mitteilten, die ebenfalls dem Dubliner Übereinkommen ausgesetzt waren.
Migrant*innen mit prekärem Rechtsstatus teilten uns in der Tat wiederholt mit, wie absurd und willkürlich ihnen die Rechtspraxis erschien. Sie sprachen oft von »Glück«, wenn es um die Chancen ging, ihren Aufenthalt zu legalisieren. Dies ist in der Tat nicht erstaunlich, wenn wir die uneinheitliche Vergabe von Asyl und anderen Aufenthaltsbewilligungen in den verschiedenen Ländern und Regionen betrachten. Gerade das Dubliner Übereinkommen hat unter Geflüchteten immer wieder zu Verwirrung geführt, was das Beispiel von Walid illustriert.
Angesichts der vielseitigen Bemühungen, die die Schweiz tätigt, um unerwünschte Migrant*innen davon abzuhalten, ins Land zu kommen, erschien es manchen von ihnen absurd, wie schwer es war, das Land zu verlassen. Walid konnte nicht verstehen, warum die Schweiz ihn jeweils wieder »zurücknahm«, wenn ein anderes Schengen-Land gemäss dem Dubliner Übereinkommen eine Überstellung in die Schweiz beantragte. »Warum? Wenn die Schweiz mich nicht mag? Warum nervt sie mich?« fragte Walid Anna (Interview in der Schweiz 2014). Er bezog sich auf die Tatsache, dass er mehrfach aus anderen europäischen Ländern in die Schweiz abgeschoben worden war. Es schien für ihn absurd, dass die Schweiz ihn wiederholt akzeptierte, obwohl ihm das Land ebenso wiederholt einen negativen Entscheid auf sein Asylgesuch ausgestellt hatte.
Das Beispiel zeigt gleichzeitig, dass auch die widerständigen Praktiken von Migrant*innen die Rechtsanwendung herausfordern und das Recht absurd erscheinen lassen. So erinnerte sich ein Mitarbeiter des Schweizerischen Staatssekretariats für Migration, dass einige Asylsuchende kurz nach ihrer Dublin-Abschiebung aus der Schweiz nach Italien wieder an der Schweizer Grenze auftauchten und dort erneut ein Asylgesuch stellten, was die Abschiebung obsolet machte. Auch wenn die Behörden auf solche widerständigen migrantischen Praktiken mit stärkerer Repression reagieren, weisen diese Beispiele darauf hin, dass staatliche Behörden nur begrenzt fähig sind, Migration zu kontrollieren.
Die Wahrnehmung, dass Recht auf willkürliche, undurchschaubare Weise angewandt wird, wurde übrigens nicht nur von Migrant*innen, sondern auch von Rechtsberater*innen und teilweise sogar auch von Staatsangestellten geteilt – wobei die Erfahrung von Absurdität in der Rechtspraxis natürlich weitaus gravierendere Konsequenzen für Migrant*innen mit prekärem Rechtsstatus hat.
Migration ist ein hochkomplexes Thema, wird aber besonders in Wahlkämpfen simplifiziert und auf knappe Phrasen heruntergebrochen. Wo sehen Sie den größten Veränderungsbedarf in der deutschen und europäischen Zuwanderungspolitik – welche politischen und rechtlichen Maßnahmen würden Geflüchteten wie Bürokrat*innen gleichermaßen helfen?
Wir wurden von unseren sehr unterschiedlichen Gesprächspartner*innen fast immer darauf hingewiesen, dass viele rechtliche Grundlagen eigentlich nicht umsetzbar sind, weil Migration einfach nicht vollständig kontrollierbar ist. Das steht in der Tat in starkem Kontrast mit der öffentlichen und politischen Diskussion, die weiterhin oft den Anschein aufrechterhält, dass sich Migration leicht kontrollieren lässt. Wir erachten es daher als wichtig, mehr Komplexität in die Debatte zu bringen und insbesondere – wie das ja auch viele politische Akteure und Wissenschaftler*innen fordern – Migration als Fakt anzuerkennen. Das würde dazu beitragen, politische Fragen rund um Migration nicht primär als Fragen der Sicherheit anzugehen und uns wieder mehr der Frage stellen, wie wir ein Zusammenleben gestalten und wie Teilhabe verschiedener Personengruppen möglich ist. Das würde insbesondere auch implizieren, die Aspirationen, Pläne und Bedürfnisse migrierter Menschen ernst zu nehmen.
Eine weitere ganz wichtige Erkenntnis ist, dass langfristige Wartezustände und dauerhafte Unsicherheit extrem zermürbende Effekte haben. Dies gilt insbesondere für Migrant*innen mit einem prekären Rechtsstatus. Diese sehen sich damit konfrontiert, wie wir aufzeigen, oft jahrelang in Warteschleifen festzustecken – ohne Klarheit, ob sie je ein Bleiberecht erhalten werden, ohne finanzielle Sicherheiten und ohne Möglichkeiten ihre eigene Zukunft zu planen. Wenn auch in viel geringerem Ausmaß sind schleppende und sich wiederholende bürokratische Verfahren auch für Staatsangestellte und andere involvierte Personen frustrierend.
Migrantische Prekarität nicht verhindern, aber auch nicht lindern zu können, hilft niemandem. Dennoch wird vermehrt ausgrenzende Politik betrieben, die nicht nur die »Armen« betrifft, sondern besonders Migratin*innen, die als Bürde und Sündenbock mediatisiert werden. Das bewirkt dann häufig einen Anstieg an negativen Ressentiments, populistischer Argumentation und Diskriminierung, anstatt darüber zu diskutieren, welchen Bedarf an Maßnahmen zur Inklusion Menschen in rechtlicher Unsicherheit haben, um eine Teilnahme am Sozialleben zu ermöglichen. Eine zentrale Schlussfolgerung wäre also, endlich die sozialen Kosten dauerhafter migrantischer Prekarität anzuerkennen und vermehrt Legalisierungsmöglichkeiten zu schaffen.