Im Dezember 1904 befahl Reichskanzler von Bülow dem Oberbefehlshaber in Deutsch-Südwest, Lothar von Trotha, Konzentrationslager zu errichten »für die Unterbringung und Unterhaltung der Reste des Hererovolkes«. Warum haben Sie die Konzentrationslager in den britischen und deutschen Kolonien im südlichen Afrika untersucht?
Mich hat die seit etwa zehn Jahren intensiv geführte Debatte darüber, ob es einen direkten Zusammenhang zwischen kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt gibt, enorm interessiert. Umstrittenen ist, ob eine mögliche Kontinuität lediglich von »Windhuk nach Auschwitz«, wie Jürgen Zimmerer es formuliert hat, untersucht werden muss — also nur mit Blick auf die deutsche Kolonialgeschichte — oder ob der europäische Kolonialismus insgesamt der Ausgangspunkt sein sollte. An den Konzentrationslagern, die mit im Zentrum der Kontinuitätsdebatte stehen und die um 1900 erst von Großbritannien in Südafrika und anschließend vom Kaiserreich im benachbarten Südwestafrika eingesetzt wurden, lassen sich die Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede europäischer Kolonialisierung meines Erachtens exemplarisch herausarbeiten. Das war der Ausgangspunkt für meine Forschung.
Was waren die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Umgang Großbritanniens und Deutschlands mit den kolonialen Lagern bzw. mit den dort Internierten?
Beide Lagersysteme dienten zunächst einmal der Beendigung langwieriger Kolonialkriege. Die Briten internierten die Zivilbevölkerung ganzer Landstriche, um die burischen Guerillakämpfer zu isolieren. Deutschland nutzte die Lager eher wie Kriegsgefangenenlager und sperrte alle Gefangenen bzw. sich ergebenden Herero und Nama ein, darunter ebenfalls viele Frauen und Kinder, die systematisch zur Zwangsarbeit herangezogen wurden. Der größte Unterschied war die Reaktion auf das Massensterben in den Lagern. Während es im Vereinigten Königreich zu einem öffentlichen Aufschrei kam, nachdem die hohen Todesraten unter den burischen Internierten bekannt wurden, und umgehend massiv Ressourcen zur Verbesserung ihrer Lage bereitgestellt wurden, kam es in Deutschland zu keiner vergleichbaren Reaktion. Das lässt sich aber weniger mit einem grundsätzlichen Unterschied zwischen britischer und deutscher Kolonialpolitik erklären, als vielmehr mit dem zeitgenössischen Rassismus. In den deutschen Lagern starben Schwarze, bei den Buren in den britischen Lagern handelte es sich um Weiße. Jene Afrikaner, die in Südafrika in einem separaten Lagersystem in ähnlicher Anzahl starben wie die Buren, lösten in der britischen Öffentlichkeit keinerlei Reaktion aus und ihre Lebensbedingungen wurden auch kaum verbessert.
Waren die von Ihnen untersuchten kolonialen Lager Vorläufer der nationalsozialistischen Konzentrationslager?
Nein, dafür spricht sehr wenig. Die kolonialen Lager waren primär militärische Mittel zur Beendigung langwieriger Kolonialkriege. Die NS-Konzentrationslager hingegen entstanden zunächst als innenpolitische Instrumente zur Bekämpfung politischer Opposition und wiesen auch im Verlauf ihrer rasanten Veränderungen nur wenige Gemeinsamkeiten mit den kolonialen Lagern auf. Eine signifikante Ausnahme war die Vermietung von Internierten als Zwangsarbeiter an Unternehmen, die sowohl in Südwestafrika als auch ab 1942 in Nazi-Deutschland praktiziert wurde. Dennoch ist ein Lernprozess zwischen »Windhuk und Auschwitz« sehr unwahrscheinlich. Erstens boten die kolonialen Lager kaum Lektionen an, die die Nazis hätten lernen können. Zweitens waren die deutschen Koloniallager nie sonderlich bekannt gewesen und in den 1930er Jahren weitgehend vergessen. Daher wundert es drittens nicht, dass die historische Forschung bisher kaum handfeste Belege für eine direkte Beeinflussung finden konnte.
Anlässlich des Gedenkens an den Massenmord an den Armeniern vor 100 Jahren wurde deutlich, wieviel Brisanz in der Verwendung des Begriffs Genozid steckt. Wie sehen Sie das in Bezug auf die Ereignisse in den britischen und deutschen Koloniallagern?
Aus Sicht historischer Forschung ist der Genozid-Begriff sehr schwierig und es gibt endlose Debatten um mögliche Definitionen. Gemäß den meisten Definitionen war das deutsche Vorgehen in Südwestafrika 1904 zweifelsohne ein Völkermord. Das gilt allerdings nicht für die 1905 errichteten Lager, die in Berlin als eine Abkehr von der vorherigen Vernichtungspolitik verstanden wurden. Es starben in den Lagern — in Süd- wie Südwestafrika — Abertausende Menschen, aber das entsprang nicht einer gezielten Vernichtungsabsicht der jeweiligen Kolonialmacht. Damit fehlt das zentrale Kriterium, um von Genozid sprechen zu können. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es sich um eine menschenverachtende Politik handelte.