Finden Sie, dass der Koalitionsvertrag die notwendigen sicherheitspolitischen Konsequenzen aus den Erfahrungen im Afghanistankrieg zieht?
Nein. Im letzten Kapitel meines Buches erörtere ich vier strategische Eingriffspunkte. Die Exekutive muss ein arbeitendes »strategisches Zentrum« einrichten. Der Bundestag muss die Bundesregierung dazu verpflichten, dem Parlament regelmäßig sicherheits- und militärpolitische Lageberichte vorzulegen, in denen Bilanz gezogen und konkrete Zukunftsperspektiven geschildert werden. Weder das eine noch das andere ist von den Koalitionspartnern verabredet worden. Die dritte Anforderung wird erwähnt, mehr aber auch nicht: Die gemeinsamen Vorbereitungen der Ministerien auf Auslandsmissionen muss ergänzt werden mit gemeinsamen (verpflichtenden) Ausbildungsgängen, Planspielen und praktischen Leitlinien. Und schließlich muss die Bundeswehr dringend das Konzept des »Staatsbürgers in Uniform« einer gründlichen, fach- und aufgabengerechten sowie öffentlich kommunizierten »Neuausrichtung« unterziehen. Dazu heißt es lapidar, dieses »Leitbild« präge »auch weiterhin« die Truppe, also auch hier Fehlanzeige.
Ihr Buchtitel »Der blinde Spiegel« klingt etwas rätselhaft. Was heißt das in Bezug auf den Afghanistaneinsatz?
Die Vorsätze und Ansprüche des Einsatzes waren hochgesteckt – aber das Bild, das die Mission auf die deutsche »Staatsmaschinerie« wirft, ist trübe. Im Grunde geht es um einen Stresstest, den Deutschland mit dieser kosten- und verlustreichen, umstrittenen und nur mäßig erfolgreichen zivil-militärischen Auslandsmission ihrer eigenen Sicherheits- und Militärpolitik unterzogen hat. Im Afghanistan-Spiegel zeigt sich, dass man nicht nur auf die selbst definierten Zwecke und Ziele schlecht vorbereitet war – es fehlt an der notwendigen Korrekturfähigkeit.
Also ist Ihre Studie mehr als ein Afghanistan-Buch?
Afghanistan ist der Anlass für eine kritische Prüfung der deutschen Sicherheits- und Militärpolitik, denn es gibt bisher keinerlei offizielle Evaluierung des Gesamtgeschehens. Die erst seit 2011 vorgelegten, regelmäßigen »Fortschrittsberichte« der Bundesregierung erfüllen diesen Zweck nicht. Sie versuchen, den Einsatz zum Ende der ISAF-Mission 2014 in halbwegs günstigem Licht erscheinen zu lassen. Und obwohl die Bundeswehr seit 2011 grundlegend umgestaltet wird und dabei die Erfahrungen in Afghanistan von entscheidender Bedeutung sind, gibt es keine öffentlich zugängliche Auswertung, die die Reformmaßnahmen nachvollziehbar macht. Über das Funktionieren der politisch-militärischen Institutionen gibt es erst recht keine offizielle Bestandsaufnahme. Davon ist auch im Koalitionsvertrag nichts zu lesen.
Demnach ist dies eine Geschichte von Versäumnissen und verpassten Gelegenheiten.
Es gibt genügend Anhaltspunkte – von der fehlenden Auswertung über die schlechte Information des Bundestags und der deutschen Öffentlichkeit bis zu der improvisierten interministeriellen Koordination. Dahinter verbergen sich Strukturprobleme der deutschen Politik. Ein Paradox wird sichtbar, das im ersten Kapitel des Buchs konkretisiert wird: Die Mission sollte für Stabilität, soziale und wirtschaftliche Konsolidierung und für »good governance« sorgen, aber in Deutschland selbst hat Governance, also die Regierungskunst, versagt. Man propagiert eine »erweiterte« Sicherheitspolitik und dem »vernetzten Ansatz« einen hohen Rang eingeräumt, aber die Wirklichkeit bleibt dahinter zurück.
Mit realistischen Zielen, klaren Fristen und Bedingungen und ein ausgewogenes zivil-militärisches Verhältnis wären also die richtigen Lehren gezogen?
Damit wäre viel gewonnen, aber diese Art von Manöverkritik bleibt an der Oberfläche. Denn mit dem Übergang von einer Politik der Landesverteidigung zu einer Politik der internationalen Sicherheitsvorsorge ist das ganze konzeptionelle und institutionelle Gefüge unter Druck geraten ist, wie ich im Kapitel II zeige. Verteidigung ist reaktiv und will zurück zum Status quo ante. Ganz anders die Stabilisierungsmissionen à la Afghanistan: Bei solchen Interventionen muss man etwas Neues, Tragfähiges gestalten. Hier geht es nicht um Sieg oder Niederlage, sondern um einen politischen und sozialen Prozess, auch mit Hilfe militärischer Mittel. Das verlangt andere Maßstäbe, Planung und Führung, Legitimationen und Qualifikationen.
Aber wie steht es um das Verhältnis der zivilen und militärischen Komponenten einer solchen Mission?
Das Ziel einer zivil-militärischen Relation von 80:20 wurde niemals erreicht; die Verteilung war genau umgekehrt. Es bestanden und bestehen keine ausreichenden Kapazitäten und Koordinationsformen, um den zivilen Kräften (z.B. Entwicklungsorganisationen) das Gewicht zu verleihen, das ihnen – auf dem Papier – zugesprochen wird. Die große Koalition will nun zivile Krisenprävention „stärken und weiterentwickeln“. Was daraus folgt, ist noch nicht abzusehen.
Lag die Unzulänglichkeit der Einsatzpolitik also vor allem an politischen und zivilen Defiziten?
Das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte besteht aus militärischen Strukturmängeln, die ich in drei Fallstudien diskutiere. Auf eine einfache Formel gebracht: Krankte die Regierungspolitik an den Folgen des eifersüchtig gehüteten Ressortprinzips der Ministerien (und der schwachen Rolle des/r Kanzlers/in), so stößt das Militär in dieser Art komplexer Missionen auf die Grenzen seiner »Interoperabilität«, d.h., des Zusammenwirkens von allen Beteiligten.
Das müssten Sie genauer erklären!
Als hochzentralisierte und hierarchische Organisation, die auf schlagkräftige Gewaltausübung ausgerichtet ist, folgt das Militär ganz anderen Handlungsprinzipien als politische oder zivile Kräfte oder NGOs. Während das Militär linear denkt oder in Handlungsketten, folgen die Zivilkräfte, deren Wirksamkeit entscheidend den Erfolg bestimmen, ganz anderen Grundsätzen. Ein gemeinsames Vorgehen ist also ausgesprochen schwierig. Nötig wären zivil-militärische Ausbildungsgänge, Einsatzvorbereitungen oder sogar gemeinsam im Vorfeld erarbeiten Leitfäden. Das gibt es bisher nur in Ansätzen, u.a. weil die professionelle Autonomie des Militärs als unverhandelbar gilt. Organisationsprinzipien aus der Ära der zwischenstaatlichen Kriege werden auf moderne Konflikte und Probleme angewendet.
Was hat das für praktische Konsequenzen beim Vorgehen der Bundeswehr?
Die Bundeswehr hat beispielsweise jahrelang an einem Leitfaden für die »Aufstandsbewältigung« gearbeitet und einleitend darin die zivil-militärische Zusammenarbeit als eine konstitutive Größe genannt – aber niemals ist irgendeine nicht-militärische Instanz an diesem Prozess beteiligt worden. Dabei wäre gerade das eine Laborsituation gewesen, in der die jeweiligen Denk- und Handlungsstile hätten reflektiert und, wo möglich, aufeinander abgestimmt werden können. Stattdessen wird aber die professionelle Autonomie des Militärs über die auftragsbezogene Kooperation gestellt.
Man müsste also bei einer Mission wie in Afghanistan über die eigenen normativen und institutionellen Prämissen nachdenken bzw. sich darüber verständigen?
Hier geht es um die Kernaussage der Formel vom »blinden Spiegel«. In dem Versuch, die Sicherheits-, Ordnungs- und Legitimationsstrukturen eines afghanischen Staates zu fördern und festigen, spiegelt sich die Gestalt und die Idee unserer eigenen Staats- und Gesellschaftsordnung. Aber wir sind nur unzulänglich informiert über die Bedingungen für deren Existenz und deren Funktion. Und doch glauben wir, diese Bedingungen ließen sich baukastenartig mit den drei Zutaten »Sicherheit«, »Entwicklung« und »Governance« am Hindukusch herstellen.