In Ihren Büchern haben Sie bisher die Sorgen der Mittelschicht und Veränderungen des Wohlfahrtsstaats behandelt. Nun greifen Sie das Thema Demografie auf. Warum?
Wir können die Veränderungen unseres Gemeinwesens nicht verstehen, wenn wir uns nicht klar machen, dass unsere Gesellschaft in dramatischer Weise altert, dass in Zukunft immer weniger junge Menschen für den Wohlstand aller zu sorgen haben, und dass wir es an vielen Orten mit einem Phänomen zu tun bekommen, das Stadtplaner als »Lichtungen« bezeichnen. Ortskerne verfallen, junge Leute suchen das Weite und die lokale Mittelschicht sitzt vier Stunden täglich im Pendlerzug. Damit treten Fragen der Ungleichheit, des Balanceverlustes und der Verteilung wirtschaftlicher und sozialer Ressourcen auf die Tagesordnung. Auch unsere Wachstumsvorstellungen geraten auf dem Prüfstand. Auf jedes Problem mit dem Ruf nach immer Mehr zu antworten – diese Haltung ist von gestern. Hier geht es nicht nur um Geburtenquote und Sterbeziffer. Es geht um Privilegien und Belastungen, um Verantwortung und Verteilung, um die demokratische Qualität unserer Gesellschaft.
Welchen Gewinn versprach die Zusammenarbeit mit einem Verwaltungsrechtler, Jens Kersten, und mit einer Kollegin, Claudia Neu, deren Schwerpunkte die Agrar-, Ernährungs-, und Landsoziologie sind?
Einen großen. Ohne deren Sachverstand hätte ich dieses Thema sicher nicht angepackt. Nicht erst die jüngsten Bundesverfassungsgerichtsurteile zeigen: mit Recht wird die Gesellschaft gestaltet. Und die Perspektive auf den ländlichen Raum hilft uns, vorauszusehen und zu verstehen, wie durch den demografischen Wandel sich die Infrastruktur und auch die Lebensverhältnisse und Bedürfnisse der Menschen in konkreten sozialen Räumen verändern.
Die Demografie-Debatte ist oft von dramatischen Schlagwörtern wie Vergreisung und Entvölkerung geprägt. Ist die Demografie nicht einfach ein Untergangsthema, das sich politisch instrumentalisieren lässt?
Genau aus dieser Ecke wollten wir die Demografie herausholen. Sie darf weder ein Thema für Abstiegsphantasien sein, noch für naive Zukunftshoffnungen, sondern muss Teil der Debatte um die Zukunft unserer rechts- und sozialstaatlich geprägten Demokratie werden. Es geht buchstäblich um die Verfassung unserer Gesellschaft, um die Art und Qualität ihrer Infrastrukturen, und um die Gestaltung und Sicherung unserer Wohlfahrt, unseres Wohlstands. Hier kommen gewaltige Verteilungskonflikte und scharfe Interessengegensätze auf uns zu. Zwischen den Generationen, zwischen Stadt und Land, zwischen Männern und Frauen, zwischen Privilegierten und Randständigen. Eine demokratische Kultur, die beansprucht, Teilhabe, eine gerechte Verteilung und Sicherheit zu gewährleisten, muss darauf demokratisch reagieren. Solange die Babyboomer in Lohn und Brot stehen, scheint die demografische Debatte ein leer laufendes Rad zu sein. Man meint, es klappt doch noch alles, und wenn wir die Sozialversicherungssysteme nachbessern, und die Kitas ausbauen, wird’s halb so wild. Doch diese Stellschraubenlogik – hier und dort ein wenig drehen – ist kein Zukunftsmodell.
Im »Bürgerdialog Demografischer Wandel« der Bundesregierung sucht man Ihre Fragen vergeblich. Warum werden sie nicht öffentlich diskutiert?
Der Problemdruck ist noch zu gering. Letztlich wird das Demografiethema auf die einfachen Formeln von Kindermangel und Alterspflege gebracht. Ein paar Kinder mehr, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ein wenig gesteuerte Zuwanderung und bessere Einrichtungen fürs Alter – und schon läuft die Sache. Dass sich die soziale Architektur und die Physiognomie unserer Gesellschaft immer rascher auf sehr markante Weise verändern werden, ist kaum im Bewusstsein. Der Bürgerdialog, den Sie angesprochen haben, ist schon die richtige Richtung. Aber es fehlt das Bewusstsein für Gesellschaftsveränderungen durch den demografischen Wandel und deren politischen Folgewirkungen.
»Zur Politisierung des Wohlfahrtsstaates« ist der Untertitel Ihres Buches. Ist das eine Zustandsbeschreibung oder eine Aufforderung? Und wenn es eine Aufforderung ist – an wen?
Es ist beides. Aber vor allem eine Aufforderung an eine demokratische Öffentlichkeit, die bereit ist, sich über ihre Privilegien Gedanken zu machen. Und ist es eine Aufforderung zugunsten der kommenden Generationen, die trotz aller demografischen Verteilungskonflikte eine Gesellschaft vorfinden sollen, die nicht nur ökonomischen Wohlstand bietet, sondern auch eine vitale Demokratie. Denn Demokratie ist niemals selbstverständlich.